5. Dezember 2022 / News aus der Welt

Klemens Wittig läuft und läuft: Mit 85 Jahren zum Weltrekord

Klemens Wittig fängt als Rentner mit dem Leistungssport an. Er sammelt Rekorde, doch beim wichtigsten Rennen ist der Sport Nebensache. Es ist nie zu spät, mit dem Rauchen aufzuhören und dem Laufen anzufangen.

Mit 85 Jahren nimmt der Dortmunder Langstreckenläufer Klemens Wittig noch immer regelmäßig an Wettkämpfen teil.
von Gregor Bauernfeind (Text) und Dieter Menne (Foto), dpa

Klemens Wittig hat Weltmeistertitel gewonnen und Rekorde errungen, doch bei seinem emotionalsten Rennen kommt der Langstreckenläufer fast 50 Minuten nach dem Sieger ins Ziel. «Meine Gefühle übermannten mich und ich musste meinen Tränen freien Lauf lassen», erinnert er sich an den Morgen des 30. September 1990, als er mit Tausenden anderen Sportlerinnen und Sportlern durchs Brandenburger Tor in Berlin läuft.

Es ist der Wiedervereinigungsmarathon und auf den «überzeugten Einheitsdeutschen» Wittig, der in jungen Jahren alleine aus der DDR geflüchtet ist, wartet die Familie an der Marathonstrecke.

Wie ein Echo hätten die Schritte der Tausenden Läufer im Tor gehallt. «Alle Haare stellten sich bei mir auf und ich bekam eine Gänsehaut vom Kopf über den ganzen Körper bis hin zum kleinsten Zeh», schreibt Wittig in seinen Erinnerungen. Das Ergebnis ist fast schon Nebensache: Er läuft den Marathon in unter drei Stunden, für einen Amateur eine starke Leistung. Aber es soll noch ein Jahrzehnt dauern, bis seine Zeit kommt - dabei ist er damals schon 53.

Heute ist Wittig 85 und läuft und läuft wie ein Junger. Gut 50 Trainingskilometer spult er jede Woche ab. Und das in einem Tempo, mit dem er auch jungen Hobbyläufern davonzieht. Auf einem Schrank in seinem Haus im Dortmunder Vorort Brechten, in dem er seit 40 Jahren lebt, hat er zig Pokale stehen. Die Medaillen hängen im Keller. Wittig ist einer der erfolgreichsten Seniorensportler überhaupt. Mehr als 150 Mal steht er bei Deutschen Meisterschaften, bei EMs und WMs auf dem Treppchen. Sein jüngster Coup: Die 50.33 Minuten über 10 Kilometer Mitte November in Essen. Weltrekord in seiner Altersklasse.

Später Karrierestart als Spitzensportler

Dabei hat Wittig in einem Alter überhaupt erst mit dem Laufen angefangen, in dem die meisten Spitzensportler ihre aktive Karriere schon wieder beendet haben. Zwar sei er immer ein «agiler Typ» gewesen, erzählt er. Er spielt in jungen Jahren Fußball, Handball, Tischtennis, fährt Rad, tanzt Folklore. Aber er raucht auch. Bis zu zwei Schachteln Stuyvesant am Tag. Als er 1977 mit dem Pfarrgemeinderat als Betreuer einer Ferienfreizeit an der Ostsee ist, droht er beim Frühsport abgehängt zu werden. Also hört Wittig mit 39 Jahren mit dem Rauchen auf und fängt mit dem Laufen an.

In den nächsten zwei Jahrzehnten ist er starker Freizeitläufer, schafft die Marathons in Berlin, New York und London innerhalb der «magischen» drei Stunden. Auf Medaillen- und Rekordjagd geht er aber noch nicht. Der Beruf nimmt viel Zeit in Anspruch. Vier Jahrzehnte arbeitet Wittig in der Stahlindustrie, viele Jahre in leitender Stellung. Der Job bringt ihn nach Venezuela, Mexiko, oder Paraguay. «Ich bin beruflich und sportlich in alle Welt gekommen», sagt er.

Erst im Rentenalter steigt er voll ins Leistungstraining ein. 2001 wird er zum ersten Mal deutscher Meister. Aber Wittig will mehr. Altersmilde gibt es bei ihm nicht, auch wenn das Verhältnis zu vielen Konkurrenten freundschaftlich ist. «Ich will schon immer gewinnen», sagt er. Nach mehreren Erfolgen auf nationaler Bühne meldet er sich 2007 für die WM, eigentlich ohne sich große Hoffnungen zu machen. Doch die gemeldeten Bestzeiten der Konkurrenten stellen sich alle als schwächer heraus. «Plötzlich war ich der Favorit für den Weltmeistertitel», erinnert sich Wittig. Den habe er sich dann auch geholt, mit einem überraschenden Endspurt mit «Tunnelblick». Wittigs Bilanz heute: 48 Mal Gold bei Deutschen Meisterschaften, 30 Mal EM-Gold, 30 Mal WM-Gold in verschiedenen Disziplinen.

DDR-Vergangenheit und Flucht

Wittig wird 1937 in Schlesien als fünftes von sechs Kindern geboren. Nach dem Krieg flüchtet die Familie nach Brandenburg. Mit der DDR habe er aber nicht viel zu tun haben wollen, erzählt er. Als Katholik mit Mutter-Gottes-Kette fällt er auf. Als er mitbekommt, dass in einem SED-Gremium über ihn gesprochen wurde, haut er 1958 kurzentschlossen über die offene Grenze nach Westberlin ab. Der sterbenskranke Vater, seine Mutter und Geschwister bleiben zurück. 14 Jahre habe er gar nicht zu ihnen gekonnt, später nur «mit den ganzen Schikanen» - auch deshalb sei der Wiedervereinigungsmarathon nach den vielen Jahren der Trennung so wichtig für ihn, erzählt er.

Seniorensport findet in den Medien kaum statt. Einmal aber läuft Wittig auf der ganz großen Bühne: Der Hessische Rundfunk bekommt mit, dass er beim Frankfurt-Marathon 2017 einen Europarekord anpeilt. Nach der Zielankunft der Top-Läufer bekommt er ein eigenes Kamera-Begleitmotorrad. Ganz geheuer ist ihm der Rummel aber nicht: Er will nicht direkt in die Kamera blicken, ist irritiert und stürzt gut acht Kilometer vor dem Ziel. Dass er sich dabei das Schlüsselbein bricht, merkt er erst viel später. Europarekord läuft er trotzdem. Die Berichterstattung sei die bisher größte Aufmerksamkeit für einen Seniorensportler gewesen, ist sich Wittig sicher.

Der Sport habe ihm unvergessliche Momente gebracht, sagt Wittig. «Viele Länder, die weite Welt. Und vor allen Dingen: Lebensqualität. Ich kann aus dem Vollen schöpfen.» Mit seiner Frau Gerda, mit der er fast 60 Jahre verheiratet ist, ist er viel gereist. Die beiden haben zwei Töchter, mit einer Enkelin will Wittig demnächst gemeinsam bei einem Lauf antreten. Er ist in der Kirchengemeinde aktiv und ist im Alter lange Radtouren nach St. Petersburg oder Santiago de Compostela gefahren. Ein weiteres Ziel: Das Nordkap. «Aber das ist eine harte Sache. Mal gucken, ob das noch klappt», sagt er. Und Wittig denkt gar nicht daran, mit dem Leistungssport aufzuhören. Für die WM Ende März im polnischen Torun ist er in mehreren Disziplinen gemeldet. «Ziel ist immer: Weltmeistertitel», sagt er.


Bildnachweis: © Dieter Menne/dpa
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